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Organisationen, die erfolgreiche Produkte entwickeln, beherrschen die damit verbundene Komplexität auf vielen Ebenen. Darauf passend zugeschnittene Prozesse helfen dabei enorm.
Das Zusammenspiel von Strategie, Taktik und operative Umsetzung entscheidet auch in der agilen Welt über den langfristigen Produkterfolg. Im Unterschied zur klassischen Welt sind aber auf den verschiedenen Ebenen immer die gleichen Akteure zuständig – das agile Produktteam. Wie kann das funktionieren?
Als begeisterte Camper-Familie nehme ich diese Art der Urlaubsform, um die Konzepte mit Beispielen zu erklären.
Die drei agilen Kern-Prozesse
Geprägt von meiner Kindheit war für mich immer klar, dass meine bevorzugte Urlaubsform Camping ist. Meine Partnerin sieht das genauso und trotzdem gibt es noch ein weites Handlungsfeld für die Gestaltung unserer Campingurlaube.
Das beispielhafte Produkt für diesen Artikel ist demnach Campingurlaub. Die Produktvision orientiert uns auf naturnahe Urlaube, die reduziert aufs Wesentliche sind.
Product Discovery – Fortlaufend strategisch planen
„Product Discovery“ bezeichnet in der agilen Welt das Erarbeiten und laufende Aktualisieren der Produktstrategie.
Der Vision flexibel folgen
Seit ich mit meiner Partnerin den Urlaub plane, hat sich die Gestaltung mehrmals stark verändert.
Anfangs war das ein ungebundener Urlaub zu zweit im VW Bulli. Zielgebiet waren oft die Alpen und ab und zu auch mal das Meer.
Mit den Kindern musste dann immer ein See oder das Mittelmeer zum Baden da sein.
Als es nach einigen Jahren mit den kleinen Kindern zu eng im Bulli wurde, haben wir auf Urlaub im Wohnwagen umgestellt. Zuerst am ruhigen Mittelmeer, dann am spannenden Atlantik.
Inzwischen sind die Kinder aus dem Haus und wir haben wieder einen Camper. Diesmal ist dieser etwas komfortabler mit Dusche und WC.
Über die Jahre waren wir auch einmal im Hotel und hatten einmal ein Ferienhaus. Aber diese Experimente zeigten uns deutlich, dass unsere Vision vom Naturnahen, reduzierten Campingurlaub immer noch passt.
Während die Vision also über 20 Jahre gehalten hat, hat sich unsere Urlaubs-Strategie immer wieder gewandelt. Die Gespräche darüber, wo wir hinfahren könnten und wie wir auf Basis unserer Lebensumstände gerne campen möchten, waren unsere Product Discovery Aktivitäten für die Familie.
Zielgruppe aktuell halten
Die Zielgruppe ist Teil der Strategie und kann sich verändern. Am Beispiel der Familie von einem jungen Paar über eine Familie mit kleinen Kindern zu einer Familie mit Jugendlichen hin zu einem Paar im besten Alter.
Im Product Discovery wird regelmäßig die Zielgruppe hinterfragt und gegebenenfalls angepasst.
Ebenso regelmäßig untersucht das Produktteam, ob die Aufgaben, Probleme und Wünsche dieser Zielgruppe noch aktuell sind und richtig verstanden sind. Dabei entdeckt das Team für die konkreten Bedürfnisse der Zielgruppe Lösungsmöglichkeiten durch entsprechende Anpassungen am Produkt.
Diese Lösungsideen sind Chancen bzw. Opportunities für die Produktentwicklung und werden ins „Product Opportunity Backlog“ aufgenommen.
Das Produktteam untersucht und priorisiert die Opportunities auf Basis der Attraktivität für die Zielgruppe, der technischen Machbarkeit und der Wirtschaftlichkeit für die eigene Organisation.
Während einige Opportunities vom Team verworfen werden, rücken andere Opportunities immer weiter in den Fokus und werden schließlich umgesetzt.
Am Beispiel unserer Familie dann als Urlaub mit einer bestimmten Campingform und einem groben Reiseziel. Die konkrete Urlaubsplanung ist der Prozess auf der nächsten Ebene.
Product Backlog Refinement – Fortlaufend taktisch planen
Das Refinement der ausgewählten nächsten Produkt-Opportunity ist die taktische Planungsebene für das nächste Release bzw. den nächsten Urlaub.
Ziel festlegen
Wichtig ist zuerst, dass in der Familie die Erwartungshaltungen abgestimmt sind und ein gemeinsames Ziel gefunden wird.
Was wollen wir in diesem Urlaub erreichen? Soll der Urlaub Entspannung bringen, stehen glückliche Kinder im Vordergrund oder sollen viele neue Eindrücke gesammelt werden? Wo soll es hingehen?
Besonders hilfreich ist es, sich gemeinsam vorzustellen, wie der Urlaub idealerweise in Erinnerung bleiben wird. Damit legen wir eine Kennzahl für den Erfolg fest. Den einzelnen Familienmitgliedern fällt es damit leichter, jede kleine Urlaubsentscheidung am Wohl aller Mitreisenden auszurichten.
Risiken und Abhängigkeiten erkennen und berücksichtigen
Ein Urlaub ist ein mehr oder weniger komplexes Projekt, je nachdem wie lange er dauern soll und wo es hingeht.
Damit man nicht unterwegs vor unüberwindbaren Hindernissen steht oder Krisen entstehen, die dann kaum noch zu bewältigen sind, sollte man sich rechtzeitig wichtige Fragen stellen und Lösungen dafür planen:
Müssen wir uns rechtzeitig impfen, versichern, …? Haben wir die notwendige Campingausrüstung oder müssen wir noch etwas hinzukaufen? Brauchen wir evtl. sogar ein anderes Fahrzeug? Verwenden wir eine Fähre, die evtl. frühzeitig weit vor dem Urlaubsbeginn gebucht werden muss?
Planung so weit detaillieren, dass wir entspannt starten können
Den anstehenden Urlaub planen wir so weit, dass wir entspannt losfahren können. Wir erarbeiten uns Antworten auf folgende Fragen:
Was ist unser Reiseziel bzw. sind unsere Ziele? Welche Route wollen wir grob nehmen? Wie lange bleiben wir wo? Was müssen wir alles mitnehmen, was beschaffen wir uns unterwegs?
Dabei planen wir nicht jeden Tag und jedes Detail. Das würde zu viel Frust erzeugen, weil es regelmäßig doch anders kommt als angenommen. Und weil wir deutlich mehr erleben, wenn wir uns an den ungeahnten Möglichkeiten, die wir erst unterwegs entdecken, orientieren.
DevOps – Fortlaufende operativ planen, umsetzen und nutzen
Entwicklung und Betrieb als Einheit behandeln
DevOps bezeichnet in der Softwarewelt Exzellenz auf der operativen Ebene, also in der Entwicklung (Development) und im Betrieb (Operations). Beides wird seit einigen Jahren als Einheit gesehen.
Neu entwickelte Funktionen gehen direkt in Produktion und Erfahrungen aus der Produktion führen direkt zu Optimierungen durch die Entwicklung.
Tägliche Koordination
Im Urlaub bedeute das, dass wir jeden Tag gemeinsam kurz den Folgetag durchsprechen und planen.
Wenn wir unterwegs eine interessante neue Möglichkeit entdecken, wird direkt besprochen, ob der bisherige Plan ad hoc angepasst werden soll oder nicht.
Schlechtes Wetter, Stau, selbst Pannen sind für geübte Camper zwar Herausforderungen. Diese meistert das Team aber gemeinsam immer erfolgreich.
Die fünf agilen Kern-Artefakte
Zwischen Produktvision und wertvoller, nützlicher Anwendung steht auch im agilen Ansatz eine anspruchsvolle Planung.
Die drei beschriebenen Kernprozesse Product Discovery, Produkt Backlog Refinement und DevOps haben jeweils als zentrales Planungsdokument eine priorisierte Aufgabenliste, ein sogenanntes „Backlog“.
Produktvision - Motivation & Fokus
Für eine langfristig erfolgreiche Urlaubsstrategie ist eine gemeinsam entwickelte Vision entscheidend: „Von welchem Urlaub träumen wir?“ Wenn sich alle Familienmitglieder mit dieser Vision identifizieren können, finden sich auch über viele Jahre trotz der damit verbundenen Veränderungen der Lebensumstände immer gute Lösungen für alle.
Trotzdem sollte die Vision immer mal wieder überprüft werden, denn evtl. passt diese irgendwann einmal nicht mehr.
Neben der Vision helfen auch etwas kurzfristiger gültige gemeinsame Ziele dabei, die Planung so zu gestalten, dass alle Beteiligten zufrieden sind und einen schönen Urlaub genießen.
Product Opportunity Backlog – Fortlaufende strategische Planung
Auf Basis von Vision und evtl. Zielen sucht die Familie aktuell passende Urlaubsformen, z.Bsp. als Unterkunft Zelt, kleiner Camper, grosser Camper oder Wohnwagen entweder auf einem Campingplatz oder frei.
Gleichzeitig sammelt die Familie Ideen zu reizvollen Reisezielen. Die Lösungsideen für die nächsten Urlaube kommen in das „Product Opportunity Backlog“. Dieses ist sortiert nach den aktuell reizvollsten, auch umsetzbaren und bezahlbaren Urlaubsideen.
Wann diese Urlaubsideen konkret umgesetzt werden sollen, ist vielen Familien zu diesem Zeitpunkt noch nicht wichtig. Falls doch, entwickelt die Familien im wahrsten Sinn eine „Roadmap“. Die ist zwar nicht in Stein gemeisselt, aber darin sehen alle Beteiligten, wann es dieses und nächstes Jahr wohin in den Urlaub gehen soll.
Product Backlog - Fortlaufende taktische Planung
Voraussetzung für einen entspannten Urlaub mit der Familie ist Klarheit über die Frage: „Was wollen wir im nächsten Urlaub erleben bzw. erreichen?“
Im Product Backlog wird das Erreichen dieser gemeinsamen Ziele des anstehenden Urlaubes taktisch geplant.
Wo soll es überall hingehen, auf welchem Weg und in welcher Reihenfolge. Was brauchen wir dafür? Wo wollen wir länger bleiben, welche Highlights erkunden?
Im Product Backlog sollte so detailliert geplant werden, dass der Urlaub entspannt gestartet werden kann – nicht mehr und nicht weniger.
Iteration Backlog - Fortlaufende operative Planung und Umsetzung
Der Urlaub selbst braucht auch ein gewisses Maß an Planung bzw. Kommunikation untereinander. Zum Beispiel wann es wohin weitergehen soll und was morgen ansteht. Dabei folgen wir flexibel dem groben Plan, dem „Iteration Backlog“. In diesem ist gelistet, was im Urlaub passieren soll. Ansonsten genießen alle den Urlaub.
Nützliche Anwendung – Bereitstellung und Betrieb
Dem kurzfristigen Plan flexibel folgend genießen alle den Urlaub. Jedes Erlebnis, gleich ob anregend oder entspannend, ist dabei ein Urlaubserfolg.
Um unvorhergesehene Chancen zu nutzen, bleiben alle Familienmitglieder so flexibel wie es sich jeweils individuell gut anfühlt. Und oft führen die Erfahrungen, die nicht vorher geplant wurden, zu den eindrucksvollsten Urlaubserinnerungen.
Alle Backlogs parallel im agilen Herzschlag aktuell halten
Eine Iteration, in Scrum als Sprint bezeichnet, ist der Herzschlag einer agilen Produktentwicklung.
In jedem „Sprint“ verbessert das Produktteam das bestehende Produkt um einen wertvollen, möglichst produktionsreifen Aspekt. Damit dreht sich in der Iteration erstmal alles um operative Themen.
In der Praxis kommt dabei die strategische und taktische Planung in Form von Product Discovery und Product Backlog Refinement zu kurz. Dieses Defizit wird dadurch verstärkt, dass die gleichen Personen auf so unterschiedlichen Ebenen arbeiten sollten.
Im Takt jeder Iteration sollten deshalb Zeiten für diese kreativen Tätigkeiten eingeplant sein. So wie die täglichen Koordinationsmeetings, das Planungsmeeting oder die Retrospektive. „Refinement Meeting“ und „Discovery Meeting“ sollten fest eingeplant sein und mindestens mit den 3 Rollen des Product Trios besetzt werden: Produktmanagement, User Experience und Entwicklung.
Die Urlaubsplanung einer Familie braucht diese hohe Parallelität nicht. Sollte sich die Familie allerdings entschließen, aus dem Hobby einen Beruf zu machen, erhöht sich die Komplexität: Die Familie wird zum professionellen Reiseblogger und ist ständig unterwegs.
Alle Prozesse brauchen gleichzeitig Aufmerksamkeit - mit denselben Akteuren
Um in diesem Umfeld erfolgreich zu sein, muss eine interessante Positionierung gefunden werden, eine flexible an den Reaktionen der Follower orientierte Strategie entwickelt werden, die Reisen müssen gut geplant sein und dann muss ständig Content für den Blog produziert werden.
Diese Gleichzeitigkeit gut zu beherrschen ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für agile Produktorganisationen.
Operative Ebene
Die Blogger entwickeln täglich oder wöchentlich neuen, aktuellen Content und stellen diesen produktiv. Sie sind ständig auf der Reise und erzeugen dabei laufend Content für die gewählten sozialen Kanäle.
Gleichzeitig ist es im Betrieb eines Blogs wichtig, auf Reaktionen des Publikums, also der Kunden, schnell und angemessen zu reagieren, Tendenzen zu erkennen und in die weitere Planung mit einzubauen.
Und älterer Key-Content muss regelmäßig geprüft du bei Bedarf aktualisiert werden. Denn das Produkt soll nachhaltig aktuell bleiben.
- Laufend neuen Wert erzeugen, beispielsweise in Form von Funktionen oder Content auf Basis des Iteration Backlogs
- Laufend den Betrieb verbessern
- Nachhaltigkeit des Produktes sicherstellen
Taktische Ebene
Auf der taktischen Ebene geht es darum, dass die nächste geplante Reise im Refinement Prozess rechtzeitig und ausreichend gut vorzubereiten.
- Nächstes Thema bis zur „Definition of Ready“ vorbereiten
Strategische Ebene
Auf der strategischen Ebene schärfen die Blogger im Product Discovery ständig ihr Verständnis der Zielgruppe und deren Bedürfnisse. Und suchen nach Reisethemen, die zur eigenen Positionierung und zu den Bedürfnissen der Zielgruppe passen.
- Chancen erkennen und bewerten
- Chancen Priorisieren
- Stakeholder intensiv einbinden
Planungshorizont
Da die Aufgaben der verschiedenen Ebenen parallel von den gleichen Personen erledigt werden, ist es sehr hilfreich sich klarzumachen, auf welcher Ebene sich das Team gerade bewegt.
Hier sind unterschiedliche Zeithorizonte relevant. Diese sind kürzer als in herkömmlichen Planungsverfahren, wie die Grafik zeigt.
Fazit
Ähnlich wie ein Verkaufstrichter im Vertrieb ist es wichtig, bei agiler Produktentwicklung alle Ebenen ständig weiter zu entwickelt. Das sollte keinesfalls durch unterschiedliche Teams erfolgen.
Stattdessen sollten in der operativen Umsetzung und im Betrieb feste Zeitfenster für die Weiterentwicklung der Strategie und die taktische Planung der nächsten Themen reserviert sein.
Teilnehmer sollten bei allen Aktivitäten mindestens aus dem Product Trio bestehen: Produktmanagement, User Experience und technische Entwicklung.
Davon profitiert der langfristige Zuschnitt eines Produktes in einer derart positiven Weise, die schwer theoretisch vorstellbar ist.